Besonderheiten autistischer Wahrnehmung

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Im ersten Beitrag zum Thema Autismus Spektrum klangen die Besonderheiten im Bereich der Wahrnehmung bereits an: Autisten nehmen die Welt teilweise oder auch zeitweise anders wahr als nicht-autistische Menschen. Oftmals ist dies dann auch der Grund für das besondere, befremdliche oder auch herausfordernde Verhalten.

von Silke Bauerfeind

Ich möchte das Thema mit einigen Beispielen anschaulich machen:

Wenn sich viele Menschen im Sommer darüber freuen, dass die Sonne scheint, ist das für einige Autisten schwer auszuhalten. Das Licht ist für sie unangenehm grell und schmerzt in den Augen, so dass sie viele Sommertage in abgedunkelten Räumen verbringen. Manche behelfen sich mit Sonnenbrillen, aber nicht jeder Mensch mit einer autistischen Wahrnehmung erträgt diesen Fremdkörper an sich und daher ist manchmal nur Rückzug möglich. Oftmals ist auch der Wechsel zwischen Sonne und Wolken schwierig. Die Lichtverhältnisse verändern sich in diesen Situationen plötzlich und irritieren das autistisch wahrnehmende Auge ganz besonders.

Viele Autisten haben ein sehr sensibles Gehör. Manche Geräusche sind für sie unerträglich, wobei nicht unbedingt die Lautstärke entscheidend ist, sondern eher die Art des Geräusches. So kann es zum Beispiel sein, dass das laute Bohrgeräusch einer Bohrmaschine keine Probleme bereitet, wohl aber das Summen einer Biene, Kirchenglocken oder klirrende Gläser im Ohr schmerzen. Vielleicht kann es sich manch einer ansatzweise vorstellen, indem man an die Schulzeit und an quietschende Kreide oder an kratzende Fingernägel auf der Tafel denkt. Ich betone aber, dass es nur ein ansatzweises Hineinempfinden ist, denn wie Autisten tatsächlich wahrnehmen, können wir nicht nachfühlen.
Oftmals ist es nicht möglich, den schmerzenden Geräuschquellen zu entfliehen und dann mündet die Situation möglicherweise wieder in auffälligem Verhalten.

Es ist für Autisten auch sehr schwierig, einem Gespräch zu folgen, wenn mehrere Personen gleichzeitig sprechen oder zu viele Hintergrundgeräusche vorhanden sind. Eine Unterhaltung im Café mit klapperndem Geschirr, Verkehrslärm, der durch Fenster dringt, und den Gesprächen oder Kau- und Trinkgeräuschen anderer Gäste, kann zu einem äußerst anstrengenden Unterfangen werden. Für Kinder ist diese Situation in der Schule gegeben: Mitschüler scharren mit den Füßen, rücken Stühle, tuscheln, Stifte machen beim Schreiben Geräusche usw. Oftmals ist es dann nicht möglich, sich zu konzentrieren. Eine Klassenarbeit kann dann zum Beispiel oftmals nur in einem reizarmen Nebenraum geschrieben werden.

Auch der Tastsinn kann bei autistischen Kindern anders ausgeprägt sein. So merken sie vielleicht nicht, wenn sie etwas extrem Heißes anfassen, kein Schmerz warnt sie vor der drohenden Verletzung, eine Verbrennung ist die Folge.
Auch kann es für Autisten schwierig sein, sich für angemessene Kleidung zu entscheiden, weil sie es möglicherweise nicht bemerken, dass ein T-Shirt im Winter zu kalt ist oder dicke Stiefel im Sommer zu warm sind.
Hier kommt dann noch dazu, dass einige Autisten Accessoires wie Mützen, Schals oder Handschuhe an sich nicht tolerieren, weil sie sich zu schwer, zu kratzig oder abschnürend anfühlen. Ein Ausflug zum Schlittenfahren wird dann sehr kurz oder gar unmöglich.
Die besondere Wahrnehmung macht sich manchmal auch beim Essen bemerkbar. Einige Kinder essen nur Lebensmittel einer bestimmten Farbe oder einer bestimmten Form. Bei anderen müssen die Dinge auf dem Teller separat angeordnet sein und dürfen nicht gemischt werden wie zum Beispiel bei einer Reispfanne.

Dies sind Beispiele, die zeigen, dass autistische Wahrnehmung wie Schmecken, Sehen, Hören, Riechen, Fühlen zu stark, zu schwach oder auch verzögert auftreten kann. Es gibt natürlich viele weitere Beispiele aus dem Alltag der Familien und wichtig ist zu wissen, dass nicht alle Sinnesbereiche gleichermaßen betroffen sind und manche Autisten zum Beispiel überhaupt keine Probleme im Bereich des Sehens haben, dafür aber extrem hochsensibel im Bereich des Hörens sind. Jeder Autist ist anders.

Wenn Sie eine Familie mit einem Kind sehen, das unvermittelt ausflippt, davon rennt, schreit oder sich versteckt, kann es also sein, dass es ein autistisches Kind ist, das mit seiner Wahrnehmung kämpft. Die meisten Eltern wünschen sich, dass sich ihr Umfeld in diesen Situationen nicht einmischt, dass ihr Kind für sein Verhalten nicht verurteilt wird und dass den Eltern nicht vorgeworfen wird, sie hätten ihr Kind schlecht erzogen. Denn bei autistischen Kindern liegt das Verhalten sehr oft in der Wahrnehmung begründet.

Stärken autistischer Wahrnehmung

An dieser Stelle möchte ich es jedoch nicht versäumen, die Stärken autistischer Wahrnehmung hervorzuheben. Viele Autisten agieren selbstbestimmt und eigendynamisch. Je nachdem, wie sehr sie auf Betreuung und Pflege angewiesen sind, können sie ein eigenständiges Leben führen und sind dabei meistens äußerst zuverlässig, loyal, hartnäckig, geradlinig, ehrlich und unvoreingenommen.

„Viele Autisten haben einen besonderen, bereichernden und ausdauernden Blick auf Details und führen in der Regel keine trivialen Gespräche. Sehr angenehm ist, dass sie sich meistens eindeutig ausdrücken und keine Doppeldeutigkeiten pflegen. Außerdem lösen manche Autisten Probleme auf unkonventionelle Art, was eine Bereicherung für alle darstellen kann. Sie begeistern sich oftmals intensiv für einzelne Themen und verfügen über ein besonders gutes Erinnerungsvermögen bezüglich bestimmter Details, Abläufe und Namen. Autisten sind oft sehr ordentlich und haben einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn.

Diese Aufzählung ist sehr pauschal gehalten und trifft natürlich nicht auf alle Autisten gleichermaßen zu. Vieles ist von der Ausprägung des Autismus und natürlich von der Persönlichkeit des jeweiligen Menschen abhängig und kann nicht verallgemeinert werden. Dennoch ist es mir wichtig, an dieser Stelle auf die erwähnten positiven Aspekte hinzuweisen, da diese vor allem bei nicht-sprechenden Kindern, Kindern mit herausfordernden Verhaltensweisen und Menschen, die nicht in der Lage sind, ein selbständiges Leben zu führen, viel zu oft übersehen werden.“
Auszug aus Silke Bauerfeind: „Ein Kind mit Autismus zu begleiten, ist auch eine Reise zu sich selbst, 2016

Das Wort Wahr-Nehmung drückt eigentlich schon gut aus, um was es geht: Jeder Einzelne nimmt Sinneseindrücke auf und begreift sie als „wahr“ und „echt“. Es ist aber nur ein subjektives Begreifen. Denn ein anderer Mensch nimmt Geräusche und Gerüche möglicherweise anders wahr und Autisten in Teilbereichen sehr viel anders. Es geht dabei nicht darum, dass jemand „einfach zu empfindlich“ ist, denn das würde die Probleme bagatellisieren. Es geht darum, dass es sich um eine andere Perspektive innerhalb dieser Welt handelt. Und diese Sichtweise, diese Aufnahme von Eindrücken, diese Wahr-Nehmung ist ebenso „echt“ und „wahr“. Wahrheit ist die Summe aller möglichen Perspektiven. Und das kann trotz aller Probleme in manchen Situationen sehr bereichernd sein, denn Autisten nehmen oftmals Eindrücke auf, die uns „normal-empfindenden“ Menschen vollkommen entgehen.

Für weitere Informationen und Tipps für Familien mit autistischen Kindern lade ich Sie herzlich auf „Ellas Blog“ ein: www.ellasblog.de. Dort finden Sie weitere Erfahrungsberichte und vieles mehr.
Der nächste Beitrag bei „Mami & Papi“ zum Thema Autismus wird sich in Kürze mit dem Thema Mimik, Blickkontakt, Körpersprache und Sprache beschäftigen.

Ihre Silke Bauerfeind (alias Ella)

Babyrotz und Elternschiss. Aus der Sprechstunde eines Kinderarztes
Vorstellung:
Silke Bauerfeind ist Kulturwissenschaftlerin und arbeitet als Autorin und freischaffende Künstlerin. Außerdem schreibt sie auf „Ellas Blog“ über ihre Erfahrungen zum Thema Autismus.
Silke Bauerfeind ist verheiratet und hat zwei Kinder. Ihr Sohn ist derzeit 16 Jahre alt und Autist. Er kommuniziert über Gebärdensprache. Die Autorin ist außerdem ehrenamtlich im Verein „autismus Mittelfranken e.V.“ aktiv.
Ihre Websites: www.ellasblog.de und www.silke-bauerfeind.com)

Im Juni 2016 erschien ihr neuestes Buch.