Rund zehn Prozent der Schulkinder leiden an einer Dyskalkulie, auch als Rechenschwäche bezeichnet.
Im Interview mit der Vorsitzenden Margret Schwarz der Initiative zur Förderung rechenschwacher Kinder erfahren Sie, was die Rechenschwäche ist, wie sie erkannt wird und wie Kinder mit Dyskalkulie gefördert werden können.
Was ist Rechenschwäche?
Margret Schwarz:
Rechenschwäche ist eine Teilleistungsstörung im mathematischen Bereich. Das heißt: Rechenschwache Kinder versagen in der Schule völlig im Fach Mathematik, während sie in anderen Fächern durchaus gute oder sogar sehr gute Leistungen hervorbringen. Sie haben keine Vorstellung von Zahlen und Mengen und kein Verständnis für Zahloperationen. Die Welt der Zahlen macht ihnen Angst.
Welche Anzeichen deuten auf eine Rechenschwäche bei Kindern hin?
Margret Schwarz:
Man könnte meinen, dass die Art der Fehler, die diese Kinder beim Rechnen machen, auf eine Rechenschwäche hindeuten kann. Das ist aber nicht so. Rechenschwache Kinder machen die gleichen Fehler wie andere Kinder beim Erlernen der Mathematik. Sie fallen jedoch dadurch auf, dass sie aus diesen Fehlern nicht lernen.
Dabei hat jedes rechenschwache Kind seine eigene Fehlertypologie, die geprägt ist von individuellen Strategien, die die Kinder selbst entwickeln und anwenden, um ihr fehlendes Verständnis auszugleichen. Das sind dann meistens auswendig gelernte, mechanisch ausgeführte Rechenwege.
Es gibt allerdings nach meiner Erfahrung einige Hinweise, die bei fast allen rechenschwachen Kindern zu finden sind: Sie rechnen zählend über die zweite Klasse hinaus, nehmen dabei meistens die Finger zu Hilfe; sie können Mengen nicht mit einem Blick erfassen (fehlende Simultanmengenerfassung); Gliederungsmöglichkeiten im Zahlenbereich bis 10 sind nicht automatisiert; der Zehnerübergang macht Probleme, Bündeln und Entbündeln ist schwierig; der Umgang mit der Uhr und mit Geld fällt schwer; das Abschätzen von Größen und Mengen ist nicht möglich; Fantasieergebnisse fallen nicht auf; Überschlagen von Rechnungen gelingt nicht. Dabei wird Auswendiglernen als Kompensation eingesetzt und Üben bringt keinen Erfolg, da es mechanisch, ohne Verständnis erfolgt.
Wie können Kinder gefördert werden? Welche Lerntherapie halten Sie für sinnvoll?
Margret Schwarz:
Es gibt nicht die Lerntherapie für rechenschwache Kinder. Jede Rechenschwäche ist anders, sowohl, was ihre Entstehung betrifft, als auch ihre Ausprägung; daher braucht jedes betroffene Kind seine eigene Lerntherapie. Die therapeutischen Maßnahmen müssen individuell auf das Kind abgestimmt werden; d.h. dass nicht nur der aktuelle Lernstand in Mathematik festgestellt werden muss, um mathematisch-didaktische Fördermaßnahmen einzuleiten, sondern das ganze Kind muss angeschaut werden, um alle
Bedingungsfaktoren, die zu seiner Rechenschwäche geführt haben, zu eruieren und durch entsprechende Maßnahmen auszugleichen.
Welche Ursachen können zu einer Rechenschwäche führen?
Margret Schwarz:
Die Ursachen können neurologischer Natur sein, z.B. kann eine Disposition, eine Rechenschwäche zu entwickeln, in der Familie liegen oder durch Störeinflüsse in der kindlichen Entwicklung begünstigt werden.
Auch das persönliche Umfeld des Kindes kann zu dieser Störung beitragen: das Verhalten der Familie, von Freunden, von Lehrern kann – oft unbewusst – negative Einflüsse auf das Kind haben.
Und natürlich gehört eine fehlende Passung des Unterrichts an den Lernstand des Kindes unbedingt zu den Ursachen.
Bei Legasthenie gibt es einen Nachteilsausgleich um Kinder von dem Notendruck zu entlasten. Gibt es diesen Nachteilsausgleich auch für Kinder mit Rechenschwäche?
Margret Schwarz:
Die Verwaltungsvorschrift für Kinder mit besonderem Förderbedarf und Behinderungen, die im Jahr 2008 in Kraft trat, sieht für rechenschwache Kinder zwar einen Nachteilsausgleich in Form von mehr Zeit und dem Zulassen von mathematisch-didaktischen Hilfsmitteln vor, jedoch nicht die Möglichkeit der Notenaussetzung.
Ich habe an dieser Vorschrift im Kultusministerium mitgearbeitet und mich vehement für eine solche entlastende Maßnahme eingesetzt, jedoch ohne Erfolg. Auch in einem persönlichen Gespräch, das Ende April dieses Jahres im Kultusministerium stattfand, konnte ich Herrn Minister Stoch nicht davon überzeugen, dass die Notenaussetzung in der Förderphase eine wichtige Maßnahme ist, wenn eine Therapie gelingen soll. Auch sollte es möglich sein, einem betroffenen Kind in der Mathematikarbeit Aufgaben zu geben, die dem aktuellen Leistungsstand des Kindes entsprechen, oder den Umfang einer Arbeit zu begrenzen. Alle Maßnahmen, die das Anforderungsprofil berühren, will das KM nicht zulassen.
Warum ist dieser Nachteilsausgleich bei Legasthenie möglich, nicht aber bei Rechenschwäche/Dyskalkulie?
Margret Schwarz:
Das Kultusministerium verweist diesbezüglich auf die Chancengleichheit anderen Kindern gegenüber, wohingegen bei lese-rechtschreibschwachen Kindern „durchaus relevante sprachliche Leistungen „isoliert“ und chancengleich festgestellt werden können“; so die Formulierung in einem Brief des Ministers an mich vom 5.8.2014.
Aus meiner Sicht hat ein Kind, bei dem im Fach Mathematik eine große Diskrepanz zum Leistungsstand der Klasse festgestellt und gleichzeitig eine Rechenschwäche diagnostiziert wird, in der Schule zu wenig adäquate Förderung bekommen. Man könnte es als unterlassene Hilfeleistung bezeichnen, die es auszugleichen gilt.
Dabei möchte ich diese Unterlassung nicht den Lehrkräften anlasten. Unser Schulsystem ist momentan noch nicht in der Lage, ausreichende präventive Maßnahmen bereit zu stellen, geschweige denn rechenschwache Kinder aufzufangen.
Wo finden Eltern Übungen gegen die Dyskalkulie?
Margret Schwarz:
Hinweise, wie Eltern ihren Kindern helfen können, findet man zahlreich in der Literatur. Auch ich habe zwei Bücher für Hilfe suchende Eltern geschrieben.
Dabei geht es vor allem darum, Kindern die Angst vor Zahlen zu nehmen, keinen zu hohen Erwartungsdruck aufzubauen. Eltern können zusammen mit ihren Kindern Mathematik im Alltag, im Umfeld entdecken und dadurch ihren Kindern helfen, mathematische Erfahrungen zu gewinnen. Außerdem sollten Eltern ihre Kinder in jeder Entwicklungsphase aufmerksam beobachten, um frühzeitig eine eventuelle Disposition für eine Rechenschwäche zu erkennen.
Literaturtipps
Elternratgeber Rechenschwäche
Margret Schwarz, Jeanette Stark-Städele
ISBN: 3-426-64231-x
Rechenschwäche
Margret Schwarz
ISBN 3-332-01239-8
Rechenschwierigkeiten erkennen und überwinden
Fritz, A. u. Schmidt, S. (Hrsg.)
Beltz Verlag, Weinheim, Basel 2009