Haben Sie sich schon einmal intensiver mit dem Thema Autismus beschäftigt? Vielleicht haben Sie ein autistisches Kind in Ihrer Familie, dann sicher ja. Oder möglicherweise wissen Sie, dass eine befreundete Familie ein autistisches Kind hat. Oder Sie haben vielleicht schon einmal ein autistisches Kind erlebt, ohne es zu wissen. Ich denke zum Beispiel an Situationen, in denen Kinder mit Autismus sich im Supermarkt, am Bahnhof oder im Wartezimmer die Ohren zuhalten, schreiend davon rennen, aus heiterem Himmel treten oder spucken oder sich auf den Boden werfen. Die meisten Menschen denken dann, dass es sich um ein unerzogenes Kind handelt, die Eltern es nicht im Griff haben und in der Erziehung irgendetwas schief gelaufen sein muss.
von Silke Bauerfeind
Wenn es sich um ein autistisches Kind handelt, das sich so verhält, sind die Gründe aber ganz anders gelagert. Um darüber aufzuklären, was Autismus eigentlich bedeutet, wie man sich angemessen verhalten und Familien möglicherweise sogar unterstützen kann, oder auch um dafür zu sensibilisieren, ob es in der eigenen Familie womöglich ein autistisches Kind geben könnte, startet mit diesem ersten Beitrag eine Themenreihe „Autismus“, für die ich als Gastautorin gerne einige Artikel schreibe.
Ich würde Sie gern mitnehmen in die Welt des Autismus, die keine andere ist, sondern ein- und dieselbe wie unsere. Ich möchte Ihnen gerne nahebringen, warum Autisten diese Welt manchmal anders wahrnehmen und sich dann unserer Auffassung nach komisch und nicht angemessen verhalten. Ich möchte gerne mit Vorurteilen und Missverständnissen aufräumen und Ihnen gerne Grundwissen zum Thema vermitteln.
Mein Name ist Silke Bauerfeind. Ich habe Kulturwissenschaften studiert und arbeite als Autorin und freischaffende Künstlerin. Ich bin verheiratet und habe zwei Kinder. Mein Sohn ist Autist. Er ist derzeit 16 Jahre alt, spricht nicht, kommuniziert per Gebärdensprache und hat trotz einiger herausfordernder Eigenschaften das Talent, die meisten Menschen im Sturm zu erobern. Auf „Ellas Blog“ (www.ellasblog.de) berichte ich über das Leben mit ihm, gebe Erfahrungen anderer Familien weiter und halte allgemeine Informationen über das Autismus-Spektrum bereit. Ehrenamtlich bin ich bei „autismus Mittelfranken e.V.“ im Vorstand aktiv. Der Verein ist einer von etwa 60 Regionalverbänden, die unter dem Dach von „autismus Deutschland e.V.“ agieren.
Warum heißt es Autismus-Spektrum?
Bis vor kurzem unterschied man zwischen frühkindlichem, atypischem und Asperger-Autismus. Damit vergab man Diagnosen, die bestimmten Kriterien genügen mussten.
Da es zwischen den Erscheinungsformen aber fließende Übergänge gibt und kein Autist dem anderen gleicht, ist man inzwischen dazu übergegangen, von einem Autismus-Spektrum zu sprechen.
Dieses Spektrum beheimatet eine Vielfalt autistischer Menschen, die alle ganz unterschiedliche Probleme und Begabungen haben. Allen gemeinsam ist eine andere Wahrnehmung als die, die wir als „normal“ bezeichnen würden. Über das Thema Wahrnehmung werde ich einen extra Beitrag schreiben, da es so wichtig und grundlegend ist.
In diesem Einführungsbeitrag sollen zunächst kurz zusammengefasst die häufigsten Vorurteile und Missverständnisse Erwähnung finden, die Menschen mit Autismus entgegengebracht werden.
Autismus ist keine Krankheit
Autismus ist keine Krankheit in dem Sinne, dass man ihn heilen oder auskurieren kann, sondern vor allem eine besondere Art und Weise seine Umwelt wahrzunehmen. Neueste Studien gehen davon aus, dass etwa ein Prozent der Weltbevölkerung im Autismus-Spektrum angesiedelt sein könnte. Es gibt mehrere Gründe für das Entstehen von Autismus: man geht heute von einer genetischen Disposition aus, die für sich alleine aber noch keinen Autismus bedingt. Vieles spricht dafür, dass Informationen im Gehirn von Menschen mit Autismus aufgrund veränderter neurologischer Verknüpfungen anders verarbeitet werden. Keinesfalls ist Autismus, wie früher angenommen, psychisch bedingt und gar auf emotionale Vernachlässigung, Traumata oder Missbrauch zurückzuführen.
Besonderheiten in der Wahrnehmung
Das “Anderssein” ist vor allem durch eine veränderte Wahrnehmung gekennzeichnet. Konkret bedeutet dies, dass Autisten unter Umständen anders sehen, riechen, schmecken, hören und fühlen. Manche Sinneseindrücke treten zu schwach, zu stark oder verzögert auf, manche vermischen sich synästhetisch. Oft kann eine Vielzahl gleichzeitig auftretender Eindrücke nicht gefiltert werden, was zu einer Reizüberflutung führt.
Die Besonderheiten in der Wahrnehmung führen dazu, dass sich Autisten manchmal anders verhalten als wir es gewohnt sind. Es kann sein, dass sich ein Autist scheinbar abwendet, impulsiv oder unhöflich und ablehnend verhält. Entgegen gängiger Meinungen ist dies aber nicht auf eine aggressive Grundhaltung oder ein Desinteresse an sozialen Kontakten zurückzuführen, sondern darauf, dass zu viele Sinneseindrücke in der aktuellen Situation eine Überforderung darstellen und sich der Mensch mit Autismus dieser entzieht. Es gibt keinen kausalen Zusammenhang zwischen Autismus und Gewalt, wie das in den Medien leider oft suggeriert wird.
Autisten können auch emphatisch sein
Ein weiterer Irrglaube ist, dass Menschen mit Autismus sich nicht in andere Menschen einfühlen können. Sie können sehr feinfühlig und mitfühlend sein, nur können Autisten die Gefühlslage ihrer Mitmenschen nicht automatisch an deren Mimik oder Gestik ablesen. Manche lernen daher mit Hilfe von Gesichter-Bildkarten auswendig, was ein trauriges, wütendes oder fröhliches Gesicht ist. Wenn sie dies erkennen oder ihnen erklärt wird, wie die Situation beschaffen ist, können sie sich in der jeweiligen Situation einfühlen wie andere Menschen auch.
Autisten sind nicht automatisch hochbegabt und nicht automatisch geistig behindert. Das Bild, das in den Medien durch Berichte über faszinierende Menschen mit Inselbegabung oder Filme wie Rain Man gezeichnet wird, vermittelt den Eindruck, dass alle Autisten irgendetwas ganz besonders gut können müssen. Es gibt diese sogenannten Savants, aber das ist sehr selten. Man muss hier deutlich zwischen Inselbegabung und Spezialinteressen unterscheiden.
Auch nicht-sprechende Autisten haben oft keine kognitiven Einschränkungen, sondern verständigen sich über Bildkarten, Gebärdensprache und Schreiben auf Buchstabentafeln oder Computern. Die Tatsache, dass sie auf eine andere Art und Weise kommunizieren, führt leider oft zu einer Unterschätzung.
Autisten leben nicht in einer anderen Welt
Autisten leben nicht in einer anderen Welt und wollen nicht isoliert sein, auch wenn sie zeitweise die Möglichkeit zum Rückzug dringend brauchen. Durch die veränderte Wahrnehmung und das damit ungewohnte Verhalten oder das wörtliche Sprachverständnis, entstehen oft Missverständnisse. Sprichwörter, Redewendungen und Floskeln können Autisten meist nicht auf den Kontext übertragen. Sie können diese aber verstehen, wenn man sie erklärt. Umgekehrt verwenden Menschen mit Autismus Sprache sehr klar und direkt, so dass sich andere möglicherweise vor den Kopf gestoßen oder beleidigt fühlen, obwohl es nicht in dieser Weise gemeint ist.
Wichtig ist, dass die beschriebenen Besonderheiten in der Wahrnehmung und die daraus resultierenden Verhaltensweisen auftreten können, aber nicht müssen. Das ist bei jedem Autisten anders, manchmal auch von der Tagesform abhängig.
In den folgenden Beiträgen werde ich diese einzelnen, kurz angerissenen Themen ausführlicher aufgreifen und hoffe, Ihnen das Autismus-Spektrum damit ein wenig näher bringen zu können.
Herzlich, Ihre Silke Bauerfeind alias Ella
Vorstellung:
Silke Bauerfeind ist Kulturwissenschaftlerin und arbeitet als Autorin und freischaffende Künstlerin. Außerdem schreibt sie auf „Ellas Blog“ über ihre Erfahrungen zum Thema Autismus. Silke Bauerfeind ist verheiratet und hat zwei Kinder. Ihr Sohn ist derzeit 16 Jahre alt und Autist. Er kommuniziert über Gebärdensprache. Die Autorin ist außerdem ehrenamtlich im Verein „autismus Mittelfranken e.V.“ aktiv. Ihre Websites: www.ellasblog.de und www.silke-bauerfeind.com)
Im Juni 2016 erschien ihr neuestes Buch.